Seiðr des Awen – Der intuitive Pfad der Duft-Seele


Dezember 3, 2025
Stephan Pohl

Seiðr des Awen – Der intuitive Pfad der Duft-Seele

Es gibt Erfahrungen, die so fein sind, dass Worte ihnen kaum gerecht werden, und doch spürt jeder Mensch sofort, wenn er ihnen begegnet. Ein naturreiner Duft gehört zu diesen Erfahrungen. Er berührt uns unmittelbar, ohne Umwege, ohne Ausreden, ohne die Schleier, die wir oft zwischen uns und unserer Wahrheit ziehen. Ein Duft trifft uns dort, wo wir noch ganz wir selbst sind. Und genau in diesem Raum beginnt Seiðr des Awen.

Die Awen ist in der keltischen Tradition die inspirierende Kraft, der göttliche Hauch, die leise weibliche Stimme, die uns zuflüstert: „Das ist wahr für dich.“ Sie ist keine Idee und keine Theorie, sondern ein Fließen, das wir empfangen. In der Begegnung mit Duft wird diese innere Inspiration spürbar. Wir merken, dass wir nicht über etwas nachdenken, sondern dass etwas in uns aufleuchtet, bevor wir darüber nachgedacht haben. Die Awen zeigt sich als jener stille Moment, in dem unser Inneres auf einen Duft antwortet, und diese Antwort ist oft ehrlicher als jede sorgfältig formulierte Selbsterkenntnis.

Der Seiðr, aus dem nordischen Raum stammend, beschreibt die Fähigkeit, unter der Oberfläche zu lauschen. Er ist ein Weg des intuitiven Wahrnehmens, des Fühlens von verborgenen Fäden, die sich zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft spannen. Seiðr bedeutet, dass wir die Muster hinter unseren Mustern spüren, die Bewegungen hinter den Bewegungen, die Wahrheit hinter der Geschichte, die wir uns erzählen. Wenn Seiðr und Awen zusammenkommen, entsteht ein Raum, in dem Duft zum Wegweiser der Seele wird.

Im Herzen eines jeden Menschen gibt es einen Ort, an dem die Wahrheit unverfälscht ist. Diese Wahrheit ist leise. Sie spricht nicht laut, sie drängt nicht, sie lockt nicht mit Versprechen. Sie zeigt einfach, was ist. Der Rat „Folge deinem Herzen“ klingt schlicht – doch viele Menschen haben den Kontakt zu dieser inneren Stimme verloren oder trauen ihr nicht mehr.

Das Herz führt nicht den Sucher, der rastlos im Außen sucht, sondern den Findungswilligen, der bereit ist, nach innen zu schauen. Der Weg des Herzens führt mittendurch: durch Leid, durch Enttäuschung, durch alles, was wehtut, weil es uns an eine Täuschung erinnert, die enden möchte. Enttäuschung löst Täuschung auf. Es ist keine Bestrafung, sondern ein Geschenk der Klarheit.

Diese innere Wahrheit ist fühlbar, nicht denkbar. Sobald wir abgelenkt werden, sobald äußere Stimmen lauter werden als unsere eigene Stille, übernimmt das Ego. Es zieht uns ins Außen, dorthin, wo es aufregend ist, wo die Welt um Aufmerksamkeit ruft, wo wir uns verlieren können, ohne es zu merken. Die Stimme des Herzens wird leiser, aber sie verstummt nie. Sie wartet, bis wir uns wieder zu ihr setzen.

Damit wir diese Stimme wieder hören, benötigen wir manchmal einen Verbündeten. Etwas, das uns zurückführt, bevor wir wieder abdriften. Dieser Verbündete ist der älteste Sinn des Menschen: der Geruchssinn.

Ein naturreiner Duft umgeht den Lärm der Gedanken. Er spricht zu uns, bevor wir erklären können, warum. Er trifft die gefühlte Wahrheit. Ein Duft zeigt uns, wo wir im Einklang sind – und wo nicht. Wenn wir innerlich ein klares Ja spüren, öffnet sich eine Tür. Wenn wir ein Nein spüren, zeigt sich ein Schatten. Beides ist wertvoll. Beides gehört zu uns.

Die Pflanzenwesen begleiten uns in diesem Prozess wie ältere Geschwister. Sie teilen ihre Essenz mit uns, damit wir die unsere wiederfinden. Jeder Duft, den wir in Liebe aufnehmen, bringt uns näher an unser eigenes Herz. So wird die Duftreise zu einem Weg in die eigene Mitte, zu einem Erinnern, das längst in uns bereitlag. Es ist das Licht des Herzens, das wir dabei wiederfinden.

Warum wirkt Duft so tief? Der Geruchssinn ist der einzige Sinn, der direkt mit unserem emotionalen Zentrum verbunden ist. Wir alle kennen die Sätze „Ich kann ihn gut riechen“ oder „Ich kann ihn nicht riechen“. Diese Redewendungen beschreiben nicht nur Geruch, sondern Resonanz. Ein Duft, den wir mögen, fühlt sich an wie ein stilles Einverständnis. Ein Duft, den wir ablehnen, berührt etwas, das wir vielleicht verdrängt, vergessen oder aus Schutz vor uns selbst weggeschlossen haben. Ablehnung ist daher kein Zeichen von Fehler, sondern ein Zeichen von Bedeutung. Sie zeigt einen Teil unseres Wesens, der noch keinen Platz bekommen hat.

In Seiðr des Awen zwingen wir solche Düfte nicht auf. Wir setzen nicht auf Härte, nicht auf Konfrontation, nicht auf seelische Überforderung. Ein abgelehnter Duft wird als Botschaft verstanden, nicht als Mittel. Die Pflanzen zeigen uns, wo ein Schatten sitzt, doch der Weg zu diesem Schatten darf weich sein, achtsam und im eigenen Tempo. Deshalb wählen wir nicht den Duft, der als erstes wehtut, sondern einen Duft, der dieselbe innere Richtung zeigt, aber auf eine Weise, die uns trägt. So kann Heilung geschehen, ohne dass der Mensch sich verliert oder überwältigt wird.

Ein naturreiner Duft ist immer auch ein Wesen. Jede Pflanze hat ihre eigene Geschichte, ihre Überlebensstrategie, ihre Elemente, ihren Charakter. In ihrem Duft verdichten sich all diese Qualitäten zu einer klaren seelischen Botschaft. Und wenn wir dieser Botschaft lauschen, begegnen wir nicht nur der Pflanze, sondern einem Teil von uns, der auf sie reagiert. Die Pflanzen erinnern uns an das, was wir im Alltag verlieren: an Würde, an Mut, an Ruhe, an Klarheit, an Freude. Manchmal erinnern sie uns an eine Kraft, die wir längst abgelegt haben, weil das Leben uns anderes abverlangte. Ein Duft kann uns heimführen zu dem, was wir einst waren, bevor wir verletzt wurden.

Diese innere Arbeit geschieht im Kreis. Seit Anbeginn der Menschheit ist der Kreis der Ort, an dem wir uns zeigen dürfen. Der Ort, an dem wir uns erinnern, dass wir nicht allein sind. Wenn Menschen im Kreis sitzen, entsteht ein gemeinsamer Atem, eine gemeinsame Aufmerksamkeit, eine Offenheit, die größer ist als die Summe der Einzelnen. Ein Duft, der durch den Kreis wandert, wird von jeder Person anders aufgenommen, und doch entsteht ein gemeinsamer Raum, in dem wir einander tragen können. Die Grenzen zwischen „mein Thema“ und „dein Thema“ werden weich. Man spürt, dass wir alle ähnliche Wege gegangen sind, ähnliche Masken tragen, ähnliche Sehnsüchte in uns tragen. Der Kreis gibt Sicherheit, und Sicherheit ist die Voraussetzung dafür, dass innere Türen aufgehen dürfen.

Der Leiter eines Seiðr-des-Awen-Kreises ist kein Therapeut im klassischen Sinn. Er ist eher ein Hüter. Einer, der darauf achtet, dass der Raum gehalten bleibt, während jede Person sich ihrem eigenen Duft, ihrer eigenen Geschichte und ihrer eigenen Offenheit nähert. Er führt nicht hart, er führt nicht von oben, sondern begleitet von der Seite. Er arbeitet mit den Düften so, wie ein Schamane einst mit Rauch gearbeitet hat: als Brücke zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt, als Verbindung zwischen dem, was wir bewusst wissen, und dem, was wir längst fühlen, aber noch nicht einordnen konnten.

Am Ende geht es in Seiðr des Awen um Rückverbindung. Rückverbindung zu der eigenen Tiefe, zu dem inneren Kind, zu der eigenen Würde, zu der Gemeinschaft, zur Quelle des Lebens, zu den Wesen der Pflanzenwelt. Alles, was dabei geschieht, folgt keiner moralischen Ordnung, sondern einer natürlichen Ordnung. Der Duft bringt uns dorthin zurück, wo wir im Inneren schon lange gewesen wären, wenn wir es nicht verlernt hätten. Ein einziger Atemzug kann manchmal mehr öffnen als Jahre von Erklärungen.

Und dabei bleibt eines wesentlich: Ein Tropfen ätherischen Öls ist ein Geschenk. Er ist das Ergebnis von hunderten oder tausenden Pflanzen, ihrer Lebenszeit, ihrem Licht, ihrem Kampf, ihrer Anpassung. Es ist nichts Selbstverständliches, eine Pflanze in konzentrierter Form in Händen zu halten. Es ist ein Akt der Achtung, diesem Tropfen bewusst zu begegnen und zu wissen, dass er eine Geschichte trägt, die größer ist als wir. Wenn wir die Pflanzenwesen mit Respekt beteiligen, wenn wir sie nicht als Material, sondern als Verbündete betrachten, öffnen sie uns Wege, die kein Verstand allein begreifen kann.

Seiðr des Awen führt uns auf diesen Weg: einen intuitiven, sanften, tiefen Pfad, auf dem Duft nicht nur eine Wahrnehmung ist, sondern eine Sprache. Eine Sprache, die die Seele versteht. Eine Sprache, die uns erinnert. Eine Sprache, die uns heimführt.

Seiðr des Awen – Die Duftreise: Ein ritueller Weg in die eigene Mitte

Es gibt Wege im Leben, die nicht im Außen stattfinden. Sie führen nicht durch Landschaften, nicht durch Straßen, nicht durch Orte, sondern durch jene inneren Räume, die sich nur öffnen, wenn wir still genug werden, um sie wahrzunehmen. Die Duftreise ist ein solcher Weg. Sie ist kein eigener Pfad, keine Methode für sich, keine Technik – sie ist der rituelle Kern innerhalb von Seiðr des Awen, jener stille Abschnitt, in dem der Mensch nicht mehr sucht, sondern empfängt.

Eine Duftreise beginnt, lange bevor der erste Duft gereicht wird. Sie beginnt in der Bereitschaft, innerlich weich zu werden. Sie beginnt dort, wo keine Zielsetzung mehr steht, keine Forderung, nichts, was „erreicht“ werden müsste. Der Mensch darf für einen Augenblick einfach ankommen. In dieser Ankunft liegt kein Tun, sondern ein Aufhören: ein Aufhören, jemand zu sein, der funktionieren muss; ein Aufhören, sich zu erklären; ein Aufhören, sich selbst zu verteidigen. Dadurch entsteht ein Raum, in dem die Seele wieder atmen kann.

Bevor der erste Duft die Haut der Seele berührt, entsteht eine Stille, die nicht Geräuschlosigkeit meint, sondern Durchlässigkeit. Das Schließen der Augen ist kein Muss, aber oft eine Hilfe – nicht, um die Welt auszublenden, sondern um die Richtung umzudrehen: weg vom Außen, hinein in das innere Feld. In diesem Zustand entsteht eine Wachsamkeit, die nicht angespannt ist, sondern lebendig. Eine Präsenz, die erinnert an ein Tier in der freien Natur, das die Welt zuerst über die Nase liest. Dieses Lauschen, dieses Witternde, dieses Unmittelbare ist das Eingangstor zur Duftreise.

Wenn der erste Duft den Raum erreicht, geschieht etwas Unberechenbares, etwas Echtes. Es ist kein Gedanke, der aufsteigt, keine Theorie, kein Vergleich. Es ist eine spontane Bewegung im Inneren – ein Aufleuchten, ein Zusammenziehen, ein warmes Öffnen oder ein leises Zögern. Dieser erste Impuls ist pur. Er ist schneller als Worte, schneller als Erklärungen, schneller als jede Form von Selbstanalyse. Er zeigt etwas, das wir später kaum noch greifen können: die Wahrheit des ersten Kontakts.

Dieser Moment ist zentral. Er ist unbestechlich. Alles, was wir später „darüber denken“, ist bereits eine Interpretation. Die reine Erfahrung liegt im ersten Atemzug, der den Duft empfängt. Diese erste Sekunde ist die Sprache des Inneren – roh, klar, ungeschminkt.

Manchmal erscheint in diesem Augenblick ein inneres „Ja“. Dieses Ja ist keine Zustimmung im rationalen Sinn, sondern eine Resonanz. Etwas in uns erkennt sich wieder, etwas darf sich ausdehnen, etwas fühlt sich gesehen. Ebenso kann ein Duft ein klares „Nein“ hervorrufen. Dies ist keine Ablehnung im äußeren Sinn, sondern der Hinweis auf einen Schattenbereich – auf etwas, das wir nicht leben, nicht zulassen, nicht fühlen wollen. Ein Nein zeigt: Hier liegt ein Raum, der verschlossen ist.

In Seiðr des Awen wird nichts erzwungen. Der Schatten wird nicht angegriffen, nicht provoziert, nicht in eine Konfrontation gedrängt. Ein abgelehnter Duft wird mit Würde betrachtet, nicht mit Gewalt genutzt. Die innere Wahrheit eines Menschen respektiert ihren eigenen Rhythmus. Statt einen schneidenden Duft aufzuzwingen, wird ein verwandter Duft gewählt – einer, der dieselbe Richtung zeigt, aber mit einer sanfteren Hand führt. So wird Heilung nicht erkämpft, sondern ermöglicht.

Während die Düfte gereicht werden, entsteht langsam ein inneres Bild. Manche Düfte öffnen Türen, andere erinnern an längst vergessene Räume, wieder andere lösen Spannung oder geben Kraft. Nach und nach zeichnet sich ein Muster ab, eine innere Erzählung, die niemand bewusst formt – die Pflanzen sprechen sie, und die Seele antwortet. Ein roter Faden taucht auf, ein Thema, ein Bedürfnis, ein Schmerz, eine Stärke. Und inmitten dieser Resonanzen zeigen sich die Pflanzenwesen wie Helfer: klar, präsent, unbestechlich.

Am Ende der Duftreise liegen jene Düfte vor dem Menschen, die ihn auf seinem Weg begleiten wollen. Sie sind nicht willkürlich, nicht zufällig, nicht „interessant“ – sie sind wahr. Sie stehen für Kräfte, die längst in uns wohnen, aber sich zeigen möchten: Mut, Sanftheit, Klarheit, Würde, Ruhe, Lebendigkeit, Herz.

Eine Duftreise innerhalb von Seiðr des Awen ist kein Experiment, keine Methode, kein Werkzeug. Sie ist ein Übergang. Ein Durchschreiten einer inneren Tür, die uns – Tropfen für Tropfen – zurückführt zu der Wahrheit, die wir unter all den Schichten des Alltags nicht verloren, sondern nur verdeckt haben.

Wenn die Augen sich wieder öffnen, ist die Welt dieselbe.
Aber der Raum, mit dem wir ihr begegnen, ist ein anderer.

Die Duftreise führt uns nicht fort.
Sie führt uns heim.

Seiðr des Awen – Die neun Pforten des inneren Feldes

Jede Duftreise geschieht in einem Raum, der größer ist als der physische Kreis der Menschen, die darin sitzen. Sie geschieht in einem inneren Feld, das sich öffnet, sobald ein naturreiner Duft beginnt, mit der Seele eines Menschen zu sprechen. Dieses Feld ist nicht sichtbar, aber es ist spürbar. Es hat eine Tiefe, eine Struktur, eine Bewegung. Und in dieser Bewegung gibt es Stellen, die wie innere Landschaften wirken – Orte, an denen Wahrheiten aufblühen oder sich verbergen. In Seiðr des Awen nennen wir diese Orte die neun Pforten.

Eine Pforte ist kein Tor, das man mechanisch durchschreitet. Es ist ein seelischer Resonanzpunkt, ein Brennpunkt menschlicher Lebensthemen, der in dem Moment sichtbar wird, in dem ein Duft etwas im Inneren berührt. Jede Pforte steht für eine Art des Menschseins, eine Art, die Welt zu erleben, eine Art, mit sich selbst und anderen umzugehen. Manche Pforten betreten wir täglich, andere meiden wir seit Jahren. Doch im Feld des Duftes erscheinen sie, ob wir bereit sind oder nicht.

Wenn ein Duft eine Pforte berührt, geschieht es nie zufällig. Düfte lügen nicht. Sie täuschen nicht. Sie verstellen keine Absichten. Sie zeigen das, was ist, und sie zeigen es mit einer Direktheit, die kein anderes menschliches Erleben besitzt. Ein Duft, der uns anspricht, öffnet eine Tür in einen Bereich, in dem wir bereits leben. Ein Duft, der uns abstößt, zeigt einen Bereich, den wir abgespalten haben – oft aus gutem Grund, oft aus Not, oft aus vergangenen Verletzungen. In dieser Ablehnung liegt kein Fehler, sondern ein Hinweis auf eine innere Wunde.

Die neun Pforten sind daher keine Kategorien. Sie sind Bewegungen der Seele. Jede hat eine helle Seite und eine Schattenseite, eine Erfüllung und eine Versuchung, eine Wahrheit und eine Verirrung. Sie sind uralte Strukturen des Menschlichen, die in vielen Traditionen bekannt sind, doch in der Duftarbeit besonders klar und unbestechlich sichtbar werden. Denn wenn die Nase spricht, schweigt der Verstand. Und gerade dann zeigt sich das, was unterhalb aller Geschichten und Selbsterklärungen liegt.

In diesem inneren Feld begegnen wir uns selbst nicht als Idee, sondern als fühlende Wahrheit. Und diese Wahrheit kann uns überwältigen, wenn wir plötzlich eine Perspektive sehen, die wir lange nicht betreten haben. Genau deshalb braucht es in Seiðr des Awen immer einen Hüter. Einen Leiter, der nicht führt, um Richtungen vorzugeben, sondern um den Raum zu halten. Er sorgt dafür, dass der Mensch, der durch eine Pforte geht, nicht verloren geht. Denn die Pforten sind kraftvoll, und es ist möglich, sich in ihnen zu verlieren, wenn man die Schönheit eines neuen Blickwinkels mit dem Ziel verwechselt.

Die alten Schamanen wussten, dass der Körper des Reisenden geschützt sein muss, wenn die Seele unterwegs ist. In Ägypten wachte der Priester über den Körper, während der spirituelle Anteil des Menschen auf Reisen ging. In der Duftarbeit übernimmt der Hüter diese Aufgabe. Er achtet darauf, dass niemand an einer Pforte haften bleibt, niemand im eigenen Schmerz versinkt, niemand in der Euphorie der Erkenntnis stecken bleibt. Die Pforte ist ein Ort, den man betritt, um die Wahrheit zu berühren – nicht ein Ort, an dem man wohnen soll.

Die erste Pforte ist die des Wachstums. Sie berührt jene Menschen, die glauben, dass ihr Wert in Fleiß, Leistung, Struktur oder Ordnung liegt. In der Tiefe dieses Themas zeigen sich oft Enttäuschungen und die Sehnsucht danach, endlich einmal genug zu sein, ohne etwas leisten zu müssen. Die Pflanze, die diese Pforte öffnet, erinnert daran, dass wahres Wachstum nicht durch Anstrengung entsteht, sondern durch Wahrheit.

Die zweite Pforte ist die der Freiheit. Sie betrifft jene, die sich über Hilfsbereitschaft und Hingabe definieren. Menschen, die oft so sehr für andere da sind, dass sie sich selbst verlieren. Und unter dieser Geste liegt oft die stille Hoffnung, geliebt zu werden, indem man unentbehrlich ist. Die Pflanze zeigt hier, dass wahre Freiheit dann beginnt, wenn Liebe nicht mit Bedeutung verwechselt wird.

Die dritte Pforte ist die der Hoffnung, in der sich Leistungsmenschen wiederfinden. Menschen, die ihren Wert aus Erfolg, Autonomie oder Kompetenz ableiten. Unter all dem liegt häufig die Angst, ohne Leistung nicht gesehen zu werden. Die Pflanze bringt die Erkenntnis, dass Würde nicht erarbeitet wird, sondern bereits da ist.

Die Pforte der Ursprünglichkeit, die vierte, berührt jene, die anders sein wollen, die Sensibilität zur Kunst erhoben haben, die ihre Feinheit als Schutzschild tragen. Was als Einzigartigkeit erscheint, ist oft eine Form des Rückzugs. Die Pflanze erinnert daran, dass Ursprünglichkeit nicht Besonderheit meint, sondern Echtheit.

Die fünfte Pforte, die der Weisheit, liegt im Spannungsfeld zwischen Wissen und Erkenntnis. Manche Menschen verwechseln das Ansammeln von Informationen mit innerer Führung. Die Pflanze zeigt behutsam, dass wahre Weisheit erst dann entsteht, wenn das Wissen in den Körper sinkt und der Kopf beginnt zuzuhören.

Die sechste Pforte, die des Vertrauens, thematisiert Loyalität und Pflicht. Viele Menschen glauben, stark zu sein, wenn sie alles tragen, alles halten, alles erdulden. Doch dahinter liegt oft die Sehnsucht nach Sicherheit. Die Pflanze erinnert daran, dass Vertrauen nicht Gehorsam bedeutet, sondern Hingabe an das Leben, so wie es ist.

Die siebte Pforte, die des Realismus, wirkt zunächst leicht und unproblematisch. Doch hinter Optimismus und Fröhlichkeit verbirgt sich oft die Angst vor Tiefe, die Angst, sich selbst zu spüren, die Angst, von Emotionen überschwemmt zu werden. Die Pflanze bringt hier die Erfahrung, dass Freude kein Ausweichen ist, sondern eine Wurzel.

Die achte Pforte, die der Wahrheit, konfrontiert jene, die mit Stärke führen wollen. Menschen, die Macht mit Klarheit verwechseln, die Aggression als Schutz nutzen. Unter all dem liegt oft die Angst vor Verletzlichkeit. Die Pflanze zeigt, dass Wahrheit nicht kämpft, sondern leuchtet.

Und schließlich, die neunte Pforte: die der Liebe. Sie berührt jene, die Harmonie um jeden Preis suchen, die Konflikte meiden, die Frieden herstellen wollen, auch wenn es sie selbst verletzt. Doch Liebe ist nicht Gleichmachen, nicht Besänftigen, nicht Glätten. Liebe ist Gegenwart.

Wenn ein Duft eine dieser Pforten öffnet, dann öffnet er sie nicht, um zu verletzen, sondern um zu erinnern. Er erinnert an etwas, das wir zurückgelassen haben: ein Bedürfnis, eine Stärke, eine Wahrheit. Die Pflanze berührt uns nicht in unserem Mangel, sondern in unserer Sehnsucht nach Ganzheit.

So wird die Arbeit mit den neun Pforten zu einem Weg, der uns tiefer in das eigene Wesen führt. Sie zeigen uns, wo wir uns verloren haben, und wo wir wieder anfangen können, uns selbst zurückzuholen. Die Düfte sind keine Werkzeuge. Sie sind Verbündete. Sie sprechen die Sprache unserer Seele, und sie tun es ohne Urteil, ohne Forderung, ohne Druck.

In Seiðr des Awen geht es immer um Rückverbindung. Die Pforten zeigen die Orte, an denen diese Rückverbindung möglich ist. Die Pflanzen sind die Brücken. Und der Mensch ist der Reisende, der den Mut findet, durch das innere Land zu gehen, das längst auf ihn gewartet hat.

Seiðr des Awen – Die Rückkehr: Wenn die Seele heimfindet

Am Ende jeder Duftarbeit, wenn die Tropfen ihren Weg getan haben und die Wahrnehmungen sich wie helle Spuren in der Seele abgelegt haben, beginnt eine Phase, die leiser ist als alles zuvor. Sie ist so unscheinbar, dass man sie leicht übersehen könnte, und doch ist sie von einer Tiefe, die das eigentliche Werk offenbart: die Rückkehr.

Zu Beginn einer Duftreise geht der Mensch von sich fort – nicht im Sinne von Entfernung, sondern im Sinne des Öffnens. Er öffnet Türen, die geschlossen waren, und Räume, die im Alltag selten betreten werden. Er begegnet Licht und Schatten, Resonanz und Widerstand, Erinnerung und Vergessen. Doch am Ende geht es nicht darum, irgendwo zu bleiben. Der Weg der Duftarbeit führt immer zurück – zurück zu dem Ort, an dem wir wohnen, ohne es oft zu merken: der eigenen Mitte.

Die Rückkehr beginnt meist still. Oft spürt man zunächst wenig. Ein Raum des Nachklangs entsteht, in dem die Seele sich sammelt. Manchmal ist es wie ein leiser innerer Wind, der durch die Ebenen geht, die der Duft berührt hat. Manchmal wie eine subtile Wärme. Manchmal wie ein neues Gewicht im eigenen Körper, das sich nicht schwer anfühlt, sondern real. Die Pflanzen arbeiten nicht laut. Sie arbeiten im Untergrund, in jenen Schichten, in denen die Wahrheit sich neu sortiert.

Während dieser Phase entstehen keine großen Einsichten. Es entsteht etwas Wertvolleres: Klarheit. Nicht als Konzept, sondern als Empfinden. Man weiß plötzlich, was stimmt. Man weiß, was nicht stimmt. Man weiß, wo das Leben an einem zieht, und wo es einen ruft. Diese Klarheit ist nicht spektakulär. Sie ist vollständig unaufgeregt – und gerade dadurch unverrückbar. Wer zu sich selbst zurückkehrt, muss sich nicht mehr verteidigen.

In der Duftarbeit ist es immer die Seele, die geht, und der Körper, der bleibt. Doch wenn die Seele zurückkehrt, findet sie den Körper verändert vor. Nicht äußerlich, nicht sichtbar, sondern durchlässiger, weicher, wacher. Der Körper wird wieder ein Zuhause, nicht ein Schauplatz für Anforderungen. Er trägt die Spuren der Reise, ohne sie als Last zu empfinden. Er wird zu einem Gefäß, das wieder bewohnt werden möchte.

Auch der Kreis hat in dieser Rückkehr eine Bedeutung, die tiefer geht als Worte. Der Kreis, der zu Beginn gehalten hat und Zeuge war, bleibt als stilles Fundament bestehen. Menschen, die gemeinsam gereist sind, tragen für einen Moment denselben Klang in sich, und auch wenn jeder wieder in sein Leben zurückkehrt, bleibt etwas Verbindendes zurück – ein gemeinsamer Atem, ein gemeinsamer Mut, ein gemeinsames Erkennen. Man fühlte sich nicht allein auf dem Weg, und man bleibt nicht allein nach der Rückkehr.

Nach einer Duftreise kehrt man nicht in die alte Welt zurück. Die Welt ist dieselbe, aber die Begegnung mit ihr ist eine andere. Die Pflanzen haben etwas freigelegt, das nicht neu ist, sondern ursprünglich. Etwas, das wir schon waren, bevor wir verletzt wurden. Etwas, das wir vergessen hatten, bevor wir anfingen, uns zu schützen. Dieses Wiederfinden ist kein Aufbruch – es ist ein Heimkommen.

Man wird kein „neuer Mensch“. Man wird ein wahrerer Mensch. Einer, der nicht nach außen greift, um sich selbst zu spüren, sondern der in sich selbst eine Verlässlichkeit findet. Einer, der nicht mehr gegen das Leben kämpft, sondern mit ihm. Einer, der sich erinnert, dass die innere Ordnung keine Moral kennt, sondern nur Wahrheit. Die Düfte zeigen diese Wahrheit, und die Rückkehr erlaubt es, sie zu bewohnen.

Am Ende bleibt etwas, das in allen alten Traditionen als heilig galt: Dank. Nicht der höfliche Dank, den man ausspricht, sondern jener stille Dank, der aus der Tiefe kommt, wenn man weiß, dass man geführt wurde. Dank an die Pflanzen, die ihr Wesen geteilt haben. Dank an die Kräfte, die im Unsichtbaren wirken. Dank an das eigene Herz, das sich geöffnet hat, obwohl es hätte verschlossen bleiben können. Dank an die Gemeinschaft, die gehalten hat. Dank an das Leben, das immer wieder Wege bereithält, die uns zurückbringen.

Zurück zu uns.
Zurück zur Wahrheit.
Zurück zum Licht, das wir in uns tragen.

Und wenn die Rückkehr ganz abgeschlossen ist,
wenn der Atem wieder ruhig geworden ist
und die Seele ihren Platz wieder eingenommen hat,
bleibt etwas Einfaches, Schönes, Unverfälschtes zurück:

das stille Wissen,
dass der Weg nie fortgeführt hat –
sondern uns genau dorthin,
wo wir immer schon waren.

 

Danke.
Für den Atem, der uns mit dem Unsichtbaren verbindet.
Für den Duft, der uns erinnert, bevor wir begreifen.
Für die Pflanzenwesen, die ihre Essenz schenken,
damit wir die unsere wiederfinden.
Für jeden Schatten, der auftauchte,
weil er uns vertraute.
Für jedes Licht, das blieb,
weil es schon immer da war.

Danke.
Für die Stille zwischen zwei Wahrnehmungen,
in der das Herz seine Wahrheit flüstert.
Für den Mut, hinzuspüren,
auch wenn es leicht wäre auszuweichen.
Für die Pforten, die sich öffneten,
die Wege, die wir betraten,
die Wege, die wir verließen,
und die Wege, die jetzt erst sichtbar wurden.

Danke.
Für den Kreis, der uns hält,
für die Gemeinschaft, die uns erinnert,
für die Rückkehr in unseren eigenen Mittelpunkt.
Für den Tropfen, der eine ganze Welt enthielt,
und für die Welt, die in uns auftauchte,
als wir ihn einatmeten.

Danke.
Für das Licht des Herzens,
das uns nie verlassen hat,
sondern nur geduldig gewartet hat,
bis wir wieder bereit waren zu hören.

Danke.
Für die Reise.
Für die Heimkehr.
Für alles, was sich gezeigt hat.
Und für alles, was sich noch zeigen wird.


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