Zwischen Trommel und Runenstab: Warum der wahre Norden zwei Magien kennt


Dezember 8, 2025
Stephan Pohl

Zwischen Trommel und Runenstab: Warum der wahre Norden zwei Magien kennt

 

1. Einleitung – Zwischen Trommel und Runenstab

Wenn ich vom Norden spreche, dann meine ich nicht die klar eingezeichnete Zone auf einer Landkarte, sondern etwas, das sich nur halb zeigt, etwas, das eher in den Rändern von Erzählungen lebt, im Schweigen zwischen zwei Worten, im leisen Knacken eines gefrorenen Zweigs, wenn niemand sonst in der Nähe ist. Dieser Norden ist kein Ort, den man erreicht, indem man einfach lange genug nach oben fährt, sondern ein innerer Raum, in dem alte Bilder, Mythen und Rituale anfangen, wieder Farbe zu bekommen. Dort, in diesem Raum, stehen zwei Gestalten nebeneinander: die Trommel der Sámi und der Runenstab der nordischen Welt. Beide tragen Spuren von Schnee, Wind und Feuer, beide erzählen vom gleichen Himmel, aber sie tun es auf sehr unterschiedliche Weise.

Die Magie der Sámi lebt in den Beziehungen, nicht in den Begriffen. Sie hängt an Landschaften, an Flüssen, an Bergen, an Tieren, an Orten, an denen man instinktiv leiser wird, ohne genau zu wissen, warum. Sie ist verwoben mit dem Atem der Rentiere, mit dem Knirschen von Eis unter den Füßen, mit dem dunklen Singen der Trommel, wenn der Noaidi durch die Schichten der Wirklichkeit reist. Die runische Welt hingegen bindet die Kräfte in Zeichen. Sie ritzt Linien in Holz, Stein, Metall und Knochen, verleiht der unsichtbaren Bewegung einen Namen, einen Klang, eine Form. Wo die Trommel schlägt, zeichnet die Hand; wo der Joik eine Gegenwart ruft, setzt der Galdr eine Formel. Und doch sind beide Ausdruck desselben unruhigen Wissens, dass die Welt mehr ist, als wir mit bloßem Auge sehen.

Es wäre zu einfach zu sagen, die eine Magie sei wild und die andere strukturiert, die eine erdgebunden, die andere himmelfokussiert. Beide tragen Ordnung und Wildheit zugleich in sich, nur in unterschiedlicher Gewichtung. Die Sámi-Welt hält an der unmittelbaren Erfahrung fest, an dem, was sich in Träumen, in Visionen, im Kontakt zu Orten und Wesen zeigt. Die nordische Runenwelt versucht, diese Kräfte zu benennen, zu fassen, zu strukturieren, sie in ein Geflecht von Mythen und Namen einzuweben, das sich um den Weltenbaum legt. Zwischen diesen beiden Polen spannt sich ein Feld, in dem der Norden als magische Landschaft überhaupt erst begreifbar wird.

Um dieses Feld wirklich zu verstehen, führt kein Weg daran vorbei, zunächst in die Tiefe der sámi­schen Wirklichkeit einzutauchen. Bevor die Runen ins Spiel kommen, braucht es das Verständnis für jene Art von Wissen, die nicht aufgeschrieben, sondern weitergetragen wird, die nicht im Buch, sondern im Atem der Menschen, im Lied und in der Trommel lebt. Erst wenn klar wird, wie die Sámi ihre Welt als ein lebendiges Gefüge von Kräften, Orten und Wesen erfahren, lässt sich wirklich erfassen, warum ihre Magie so anders wirkt als die runische und dennoch denselben Norden berührt. Genau dort setzt der nächste Schritt an, wenn wir den Kosmos der Sámi betreten und uns von ihrer Sicht auf die Wirklichkeit führen lassen.

 

2. Der Kosmos der Sámi – Eine Welt aus Beziehungen

Wenn ich den Kosmos der Sámi betrete, dann fühlt es sich an, als würde ich einen Raum betreten, in dem die Luft dichter wird und die Farben tiefer. Es ist kein gedachtes System, kein Konstrukt, das man wie ein Puzzle zusammensetzen kann, sondern eine lebendige Wirklichkeit, die uns entgegenkommt, sobald wir bereit sind, nicht nur mit dem Verstand, sondern mit den Sinnen zu hören. Dieser Kosmos ist kein Ort, an dem Menschen über Natur stehen, sondern ein Gefüge, in dem alles miteinander verwoben ist. Und je länger man sich darin aufhält, desto stärker merkt man, dass die Welt der Sámi nicht erklärt, sondern erfahren wird. Sie lebt in den Beziehungen, nicht in den Vorstellungen, und in jener leisen Präsenz, die sich zeigt, wenn man die Augen nicht fester schließt, sondern weiter öffnet.

Zentral für dieses Weltverständnis ist die Gewissheit, dass alles beseelt ist. Ein Berg ist nicht einfach Stein, sondern eine Persönlichkeit, ein Wesen mit eigener Geschichte, eigener Kraft und sogar eigener Stimmung. Ein Fluss ist nicht bloß Wasser, sondern ein Weg, ein Grenzbereich, ein Ort, der manchmal freundlich wirkt und manchmal schweigend beobachtet. Selbst der Wind wird als jemand gedacht, der zuweilen neckt, zuweilen warnt, zuweilen fordert. In einer solchen Welt ist der Mensch nicht Herr, sondern Teilhaber. Er bewegt sich nicht über ein lebloses Terrain, sondern durch ein Feld von Beziehungen, das auf ihn reagiert, ihn formt, ihn manchmal prüft. Man bewegt sich mit derselben Achtsamkeit, mit der man einen Raum betritt, in dem jemand schläft: vorsichtig, respektvoll, lauschend.

Aus dieser Haltung entsteht eine Art Wissen, das nicht in Büchern zu finden ist. Es ist Erfahrungswissen, Körperwissen, ein Gespür dafür, wann ein Ort schweigt und wann er ruft. Die Sámi haben nie versucht, diese Wahrnehmung in abstrakte Kategorien zu pressen. Sie leben sie. Und daraus entsteht das, was wir heute als ihr animistisches Weltbild bezeichnen. Doch dieses Wort beschreibt nur die Oberfläche. Es geht um etwas Tieferes: um die Erfahrung, dass alles, was existiert, von innen her leuchtet und dass dieses Leuchten in Beziehung tritt, wenn man selbst bereit ist, sich als Teil des Ganzen zu begreifen. Die Welt antwortet. Das ist der eigentliche Kern.

In dieser Welt gibt es keine scharfe Grenze zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren. Das, was wir heute vielleicht als „spirituelle Welt“ bezeichnen würden, ist für die Sámi keine andere Wirklichkeit, sondern eine andere Tiefe derselben Wirklichkeit. Wenn der Noaidi reist, bricht er nicht aus der Welt aus – er taucht nur weiter hinein. Es ist ein Wechsel des Zustands, nicht des Ortes. Die obere Welt ist die Sphäre der lichten Kräfte, der Inspirationen, der Ordnungen, die wie ferne Strahlen in die alltägliche Welt hineinreichen. Die mittlere Welt ist die Landschaft, in der Menschen, Tiere, Pflanzen und andere Wesen einander begegnen. Und die untere Welt ist der Ort der Ahnen, der Wurzeln, der alten Kräfte, die im Dunkel wohnen, ohne je bedrohlich sein zu müssen. Für die Sámi sind das keine getrennten Ebenen, sondern ineinander greifende Schichten, durchlässig wie Nebel, strukturiert wie Strömungen in einem großen See.

Diese Durchlässigkeit formt auch die Rolle der heiligen Orte, der Sieidi. Ein Sieidi ist kein Kultplatz in unserem modernen Sinne, kein Ort, der durch Architektur oder Menschenhand heilig wird. Er ist heilig, weil dort etwas lebt, das sich bemerkbar macht. Man erkennt solche Orte nicht durch ein Schild oder durch Überlieferung, sondern durch ein Gefühl, das sich wie ein leises Ziehen im Inneren bemerkbar macht. Man nähert sich vorsichtig, vielleicht mit einem kleinen Opfer, vielleicht mit einem stillen Gruß. Der Sieidi braucht keine Worte. Er verlangt keine Erklärung. Er ist einfach da, mit einer Kraft, die sich dann öffnet, wenn man bereit ist, mehr zu hören als die eigenen Gedanken.

Und hier zeigt sich etwas, das für das Verständnis der sámi­schen Magie unverzichtbar ist: Sie ist nicht symbolisch, sondern relational. Es geht nicht darum, Zeichen zu setzen, deren Bedeutung festgeschrieben ist. Es geht darum, eine Beziehung zu pflegen, die lebt und die sich durch Begegnung verändert. Ein Sieidi ist kein Symbol, sondern ein Partner. Ein Tier, das sich zeigt, ist kein Omen, sondern ein Gespräch. Ein Traum ist keine Botschaft, die entschlüsselt werden muss, sondern ein Besuch. Die Welt spricht in Formen, die nicht gedeutet, sondern beantwortet werden wollen.

In dieser Art des Weltsehens wird verständlich, weshalb die Trommel des Noaidi nicht bloß ein Ritualinstrument ist, sondern ein Werkzeug, das die Struktur der Wirklichkeit selbst berührt. Die Trommel öffnet keine fremden Räume. Sie verstärkt das, was ohnehin da ist, und versetzt den Noaidi in die Lage, die Strömungen der Welt bewusster zu betreten. Der Klang ist kein Signal, sondern ein Übergang. Mit jedem Schlag verschiebt sich die Aufmerksamkeit, bis der Noaidi dort steht, wo die Grenzen dünn werden und die Welt in ihrer ganzen Schichtung sichtbar wird.

Wenn man diesen Kosmos lange genug betrachtet, spürt man, wie anders er atmet als die spätere runische Welt. Und genau das ist entscheidend, bevor wir die Runen überhaupt ansprechen. Denn erst aus dieser Tiefe heraus wird klar, warum die sámi­sche Magie ein Gefüge ist, das auf unmittelbarer Erfahrung beruht, während die runische Welt Kräfte in Formen fasst, benennt und bindet. Doch um das wirklich nachzuempfinden, müssen wir noch weiter in die Praxis der Noaidis eintreten, in jene besondere Weise des Reisens, Hörens und Wirkens, die nicht nur den Kosmos beschreibt, sondern ihn durchwandert. Und genau dort setzt das nächste Kapitel an.

 

3. Über die Quellen – Zwischen Verzerrung und Wahrheitssuche

Bevor ich tiefer in die eigentliche Magie der Sámi eintauche, muss ich einen Schritt zurücktreten und über etwas sprechen, das oft übersehen wird, obwohl es den gesamten Blick auf diese Welt färbt: die Frage, woher wir unser Wissen eigentlich haben. Denn es wäre zu einfach so zu tun, als hätten wir ein klares, ungebrochenes Erbe vor uns liegen, das nur darauf wartet, wie ein altes Buch aufgeschlagen zu werden. So funktioniert es nicht. Die Magie der Sámi ist kein System, das sich brav notieren ließ, während die Zeit an ihm vorbeizog. Sie ist ein lebendiges Gefüge, und vieles davon wurde nie gesprochen, nie erklärt, nie festgehalten. Und das, was doch den Weg auf Papier fand, wurde oft durch fremde Augen betrachtet – durch Augen, die nicht verstehen wollten, was sie sahen.

Während der Christianisierung geschah genau das, was im Norden so häufig geschah: Die Stimmen derjenigen, die ihr Land, ihre Sprache und ihre Welt verteidigten, wurden leiser. Die Stimmen derer, die kamen, wurden lauter. Und was sie schrieben, sollte nicht bewahren, sondern zerstören. Die Missionare beschrieben die Trommeln, die Rituale, die Lieder und die Weltbilder der Sámi nicht, um sie zu verstehen, sondern um sie auszurotten. Sie sammelten nicht aus Liebe, sondern aus Angst. Und in dieser Angst liegt der erste große Filter, durch den wir heute hindurchsehen müssen. Denn wer ein Weltbild hasst, kann es nicht wahrheitsgemäß wiedergeben. Er wird es verdrehen, dämonisieren, vereinfachen oder ins Lächerliche ziehen. Genau das geschah auch hier.

Darum muss man sehr vorsichtig sein. Die Berichte der christlichen Chronisten sind keine Fenster, sondern verzerrte Spiegel. Sie zeigen vielleicht den Umriss der Dinge, aber nie ihre wahren Farben. Sie geben Hinweise, aber sie lügen genauso viel, wie sie verraten. Und doch kann man sie nicht einfach wegwerfen. Sie sind Fragmente eines zerschlagenen Gefäßes, und obwohl die Scherben unvollständig sind, lassen sie erkennen, welche Form das Ganze einst hatte. Zwischen den Linien liegt eine Wahrheit, die sich nicht zeigt, wenn man sie wörtlich nimmt, sondern wenn man lernt, die Angst des Schreibenden zu hören, sein Unverständnis, seine Überforderung. Gerade in dem, was er nicht begreift, offenbart sich oft das, was wirklich wichtig war.

Neben diesen verzerrten Stimmen gibt es aber noch etwas anderes, etwas Leiseres, aber wesentlich Robusteres: das Wissen der Sámi selbst. Generationen haben es weitergegeben, nicht in Büchern, nicht durch Regeln, sondern durch Begegnung, durch Erzählung, durch die Art, wie man sich verhält, wenn man einen bestimmten Ort betritt, oder wie man schweigt, wenn ein Tier sich zeigt. Dieses Wissen ist nicht vollständig erhalten, aber es lebt. Es lebt in Geschichten, in Liedern, im Joik, in den Erinnerungen der Älteren, in den Landschaften selbst. Manche Familien tragen Teile dieses Wissens bis heute in sich, und sie teilen es nicht freizügig, sondern vorsichtig, weil es eben nie dafür gedacht war, in den Händen von Fremden zu landen. Was wir davon erfahren dürfen, ist ein Geschenk, kein Anspruch.

Dazu kommen die Trommeln, jene stillen Weltkarten, die mehr über den sámi­schen Kosmos verraten als jede Missionsschrift. Ihre Symbole zeigen Beziehungen, Wege, Kräfte, Zusammenhänge, die man nicht erfinden kann. Sie sind keine Schmuckstücke, sondern Werkzeuge, die für das Wandern zwischen den Schichten der Wirklichkeit geschaffen wurden. Wer sie betrachtet, sieht den Abdruck eines Denkens, das nicht in Worten, sondern in Beziehungen geformt wurde. Und dann gibt es noch die Sprache selbst – Wörter, die Spuren alter Vorstellungen tragen, Spuren von Seelenkonzepten, von Naturwesen, von rituellen Rollen. Sprache ist ein Archiv, auch wenn sie sich selbst dessen nicht bewusst ist.

Erst aus all diesen Strängen entsteht ein Bild, das der ursprünglichen Welt der Sámi zumindest nahekommt: die fragmentarischen Aufzeichnungen der Missionare, die man kritisch auseinandernehmen muss; die wissenschaftlichen Arbeiten späterer Forscher*innen, die zwar bemüht waren, aber dennoch von außen kamen; die Erzählungen der Sámi selbst, die nicht erklären, sondern erinnern; die Trommeln, die schweigen und dennoch sprechen; die Landschaft, die lehrt, wenn man bereit ist zu lauschen. Es ist ein Mosaik, und kein einziger Stein reicht aus, um das Ganze zu erkennen. Erst die Verbindung macht das Bild sichtbar.

Und genau deshalb ist es so wichtig, dieses Kapitel zu setzen, bevor wir weitergehen. Denn wer ohne diese Bewusstheit auf das Wissen der Sámi blickt, sieht nur das, was die Sieger aufgeschrieben haben, und übersieht das, was sie nicht verstanden. Doch wer gelernt hat, zwischen den Zeilen zu hören, erkennt, wie viel sich dennoch halten konnte. Mit diesem Bewusstsein betreten wir nun den Raum, in dem die Magie der Sámi wirklich lebt: nicht in den Dokumenten, sondern in der Art und Weise, wie sie die Welt betreten. Von hier aus führt der Weg direkt in die Praxis der Noaidis, in jene besondere Form des Reisens, Wirkens und Hörens, die wir im nächsten Kapitel betreten.

 

4. Die Praxis der Noaidis – Wandern zwischen den Schichten der Welt

Wenn ich von der Praxis der Noaidis spreche, dann betrete ich einen Raum, der sich nicht durch Beobachtung erschließt, sondern durch Nähe. Die Noaidis waren keine Priester, keine Magier und keine Hexer im europäischen Sinn. Sie waren Wanderer zwischen den Schichten der Wirklichkeit, Mittler, Übersetzer, jene Menschen, die nicht nur die Oberfläche der Welt wahrnahmen, sondern auch ihre Strömungen, Tiefen und Verknüpfungen. Und es ist unmöglich, ihre Praxis zu verstehen, ohne die Haltung zu spüren, aus der sie hervorgeht: eine Mischung aus Mut und Hingabe, aus Lauschen und Verantwortung, aus der Bereitschaft, sich selbst als Teil eines Ganzen zu begreifen, das größer ist als jedes einzelne Leben. Wenn ein Noaidi wirkte, dann tat er das nie für sich allein, sondern immer im Auftrag einer Gemeinschaft, eines Ortes oder einer Kraft, die ihn rief.

Die Reise des Noaidi beginnt immer im Körper. Sie beginnt mit der Art, wie er atmet, wie er sitzt, wie er sich auf die Trommel einlässt, als würde er in einen alten Fluss steigen, der nie aufgehört hat zu fließen. Die Trommel ist dabei nicht nur ein Instrument, sondern ein Begleiter. Ihr Klang trägt nicht nach außen, sondern nach innen, dorthin, wo die Grenzen dünner werden. Mit jedem Schlag löst sich die Welt ein Stück weit von ihrer festen Form und wird durchlässiger. Der Noaidi gleitet in einen Zustand, in dem sich die inneren und äußeren Bilder verbinden, in dem die Welt sich verschiebt, ohne ihren Halt zu verlieren. Die Trommel ist das Schiff, der Atem der Wind, die Wahrnehmung der Fluss, der ihn trägt.

Doch eine Reise beginnt nicht mit dem ersten Schritt, sondern mit der Entscheidung, überhaupt aufzubrechen. Ein Noaidi reist niemals ohne Grund. Er tut es, wenn jemand verloren gegangen ist – nicht körperlich, sondern seelisch. Wenn eine Krankheit die Ordnung eines Menschen gestört hat. Wenn ein Ort verstummt, der sonst spricht. Wenn Tiere ausbleiben, die sonst kommen. In der Welt der Sámi ist die Störung nie zufällig. Sie ist ein Zeichen, dass etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist, und der Noaidi folgt diesem Zeichen wie einer Spur. Seine Aufgabe besteht nicht darin, ein Problem zu „lösen“, sondern die Beziehung wiederherzustellen, die Schaden genommen hat. Heilung heißt hier nicht Eingriff, sondern Rückkehr.

Wenn der Noaidi reist, tut er das in mehreren Schichten. Er sucht nicht einen abstrakten Himmel oder eine Hölle, sondern eine Welt, die unter, über und durch die unsere verläuft wie ein Geflecht aus Strömungen und Räumen. In der oberen Welt begegnen ihm lichte Kräfte, Ordnungen, Ahnen, die weit zurückreichen, Stimmen, die nicht drängen, sondern erinnern. In der unteren Welt findet er tiefe Wurzeln, alte Wesen, Erdkräfte, Tiere, die mit einer Klarheit handeln, die keinen Zweifel duldet. Und in der mittleren Welt, der Welt, in der wir alle leben, spürt er die Stellen, an denen die Gewebe dünner werden, an denen Übergänge warten, die nur sichtbar sind, wenn man gelernt hat, anders zu schauen.

Auf diesen Reisen ist der Noaidi nie allein. Er arbeitet mit Tierverbündeten, jenen Wesen, die ihn begleiten, die ihn schützen, die ihn führen. Diese Verbündeten sind keine Symbole und keine Archetypen. Sie sind Begegnungen. Sie sind Wesen mit eigenem Willen, eigenem Charakter, eigener Kraft. Ein Noaidi hat nicht die Freiheit, sie auszuwählen. Sie wählen ihn. Und sie begleiten ihn manchmal ein Leben lang, manchmal nur für eine Reise. Ihre Anwesenheit ist keine Zierde, sondern eine Notwendigkeit, denn niemand wandert allein in einer Welt, die größer ist als der eigene Verstand.

Wenn der Noaidi in diese Welten eintritt, bringt er nichts mit außer seiner Wahrnehmung und einem tiefen Respekt. Er stellt keine Forderungen. Er zwingt keine Kräfte. Er bittet nicht im Sinne eines Gebetes. Er hört. Er lauscht. Er folgt. In dieser Haltung liegt seine Stärke. Er ist nicht der Herr der unsichtbaren Welt, sondern derjenige, der gelernt hat, sich in ihr zu bewegen, ohne sie zu verletzen. Seine Macht besteht nicht in Kontrolle, sondern in Aufmerksamkeit. Sie besteht darin, die Zeichen zu erkennen, die andere übersehen, und die Verbindungen wieder zu knüpfen, die gerissen sind.

Wenn der Noaidi zurückkehrt, tut er das nicht mit einer Offenbarung oder einer neuen Lehre, sondern mit einer Veränderung. Etwas wurde bewegt. Etwas wurde zurückgebracht. Etwas wurde geöffnet. Die Gemeinschaft spürt es oft, bevor er es ausspricht. Und genau darin liegt die praktische Magie dieser Arbeit: Sie wirkt nicht durch Wissen, sondern durch Beziehung. Nicht durch Symbole, sondern durch Gegenwart. Nicht durch Macht, sondern durch ein tiefes Verständnis dafür, wie die Welt atmet.

Wenn man diese Praxis in ihrer Tiefe verstanden hat, beginnt der Unterschied zu den runischen Traditionen deutlich zu werden. Denn während der Noaidi durch die Strömungen reist, bewegt sich der Runenmagier durch die Formen. Während der eine lauscht, benennt der andere. Während der Noaidi Beziehungen heilt, bindet der Runenstab Kräfte in Zeichen. Doch bevor wir diesen Vergleich wirklich ausführen können, muss die runische Welt selbst betreten werden, mit derselben Achtsamkeit und derselben Tiefe, die wir hier den Sámi gewidmet haben. Und genau dort führt uns das nächste Kapitel hin.

 

5. Die runische Welt – Kosmos, Haltung, Ursprung der Zeichen

Wenn ich in die runische Welt hinübertrete, dann fühlt es sich an, als würde ich einen anderen Norden betreten. Nicht fremd, nicht entgegengesetzt, aber anders gewichtet. Wo die Magie der Sámi sich aus Beziehungen formt, aus Atem, aus Landschaft, aus dem Lauschen auf das, was schon da ist, lebt die runische Welt aus Formen, aus Linien, aus benannten Kräften. Sie ist nicht weniger tief und nicht weniger wild, aber sie ist strukturierter. Man könnte sagen: Die sámi­sche Welt wirkt wie ein Netz, während die runische Welt wie ein Baum wirkt. Das eine ist weit verzweigt, fließend, in alle Richtungen offen; das andere wächst nach oben und unten, mit einem Stamm, der die Wirklichkeiten verbindet. Und genau diese Form spürt man sofort, sobald man die Runen betritt.

Die Grundlage der runischen Welt ist immer Yggdrasill, der Weltenbaum. Er ist keine Allegorie, kein Symbol, sondern die Beschreibung einer Struktur, durch die die Kräfte der Welt fließen. Das Runensystem ist ohne ihn nicht denkbar. Alles, was in den nordischen Mythen wirkt, ist irgendwo an diesen Baum gebunden – an seine Wurzeln, seine Krone, seine Zwischenräume. Die Runen selbst sind wie Fasern dieses Baumes, wie Risse im Holz, durch die das Licht tritt. Wer mit ihnen arbeitet, greift nicht auf Zeichen zu, die man austauschen oder neu erfinden könnte, sondern auf Kräfte, die älter sind als jedes Wort. Sie sind nicht erdacht, sondern gefunden.

Der Ursprung der Runen liegt nicht in einer menschlichen Entscheidung, sondern in der Geschichte eines Opfers, das mehr ist als Mythos. Óðinn hängt dort, neun Nächte lang, an Yggdrasill, verwundet, allein, ohne Nahrung, ohne Hilfe, nur mit dem Blick nach innen gerichtet, bis die Runen sich ihm zeigen. Nicht als Botschaften, sondern als Muster, als ein Geflecht von Kräften, die er nicht erschafft, sondern erkennt. In dieser Geste liegt die Haltung der gesamten runischen Welt: Man eignet sich Macht nicht an, man ringt um Erkenntnis. Man nimmt die Zeichen nicht einfach in die Hand, sondern wird von ihnen angesehen. Sie sind kein Werkzeug, sondern eine Antwort.

Aus diesem Ursprung heraus entstehen die Linien der Runen. Jeder Strich steht für eine Bewegung, für eine Kraft, für eine Art, wie die Welt sich verhält. Die Runen sind keine Buchstaben, auch wenn man sie später dafür benutzte. Sie sind Verdichtungen von Wirkprinzipien. Fehu ist nicht nur Vieh und Reichtum, sondern der Fluss der Fülle selbst. Uruz ist nicht nur ein Auerochse, sondern der Impuls des Lebens, der aus der Erde bricht. Thurisaz ist nicht nur Dorn und Riese, sondern der Moment des Durchbruchs und der Gefahr. Jede Rune ist ein Knotenpunkt, an dem Mythos, Natur und menschliche Erfahrung zu einer Linie werden. Man kann sie sprechen, man kann sie ritzen, man kann sie hören – aber man kann sie nicht besitzen.

Anders als in der sámi­schen Welt ist Klang hier nicht Beschwörung, sondern Formgebung. Der Galdr, das Singen und Tönen der Runen, ruft die Kräfte nicht an, sondern bringt sie in Bewegung. Es ist ein Aufschwingen, ein Verstärken, ein Gestalten. Die Runen sind in diesem Sinn wie Vibrationen, die man durch die Welt schickt. Das Ritzen hingegen ist Bindung. Wer eine Rune in Holz oder Stein bringt, verankert eine Kraft, gibt ihr eine Richtung, begrenzt sie bewusst, damit sie klarer wirken kann. Es ist eine Kunst, die Präzision verlangt, keine Willkür. Denn jede Rune trägt eine eigene Art des Willens, und nur wer ihre Natur versteht, kann sie so einsetzen, dass sie nicht gegen den eigenen Strom arbeitet.

Auch die Kosmologie der Runen unterscheidet sich deutlich von der der Sámi. Die nordische Welt ist in neun Bereiche gegliedert, verbunden durch den Weltenbaum, aber dennoch voneinander differenziert wie Räume eines Hauses. Asgard, Midgard, Hel, Vanaheim, Jötunheim, Alfheim, Svartalfheim, Muspelheim, Niflheim – jede Region trägt eigene Kräfte, eigene Ordnungen, eigene Wesen, eigene Herausforderungen. Es ist ein Weltbild, das Struktur liebt, auch wenn es voller Unruhe ist. Ein Noaidi gleitet zwischen Schichten; ein Runenmeister bewegt sich zwischen Räumen, in denen jede Kraft einen festen Ort hat, an dem sie wohnt.

Doch auch wenn das System ordentlicher wirkt, ist es nicht zahm. Runenmagie hat nichts mit Kontrolle zu tun. Wer versucht, sie zu beherrschen, verliert. Ihre Kraft entsteht aus dem Zusammenspiel von Klarheit und Demut. Man benennt nicht, um zu kommandieren, sondern um zu öffnen. Man ritzt nicht, um zu binden, sondern um sichtbar zu machen, was ohnehin wirkt. Die Runen sind keine Werkzeuge des Willens. Sie sind Werkzeuge der Erkenntnis. Und ihre Magie entsteht dort, wo man aufhört, sie wie ein Alphabet zu behandeln, und beginnt, sie als Kräfte zu empfinden, die sich durch Jahrhunderte und Mythen ziehen wie Fäden eines viel größeren Teppichs.

Wenn man den runischen Kosmos lange genug betrachtet, erkennt man seine innere Spannung: Er ist gleichzeitig wild und strukturiert, chaotisch und geordnet, nah und fern. Und genau darin unterscheidet er sich von der sámi­schen Welt, die keine Linien zieht, sondern Ströme spürt. Doch bevor dieser Unterschied ausgesprochen wird, bevor beide Welten nebeneinandergelegt werden, um ihre Berührungspunkte und Brüche zu sehen, braucht es ein Kapitel, das diese beiden Pole zueinander ins Verhältnis setzt. Und genau dorthin führt uns das nächste Kapitel.

 

6. Zwei Magien des Nordens – Berührung, Gegensatz, Geheimverwandtschaft

Wenn ich die Welt der Sámi und die runische Welt nebeneinanderstelle, dann entsteht kein einfaches Bild. Es ist nicht so, dass die eine wild und die andere geordnet wäre, die eine erdverbunden und die andere himmelsgerichtet, die eine schamanisch und die andere rituell-mythologisch. Diese Gegenüberstellungen greifen zu kurz. Je tiefer man beide Welten betrachtet, desto deutlicher wird, dass sie aus demselben Boden wachsen und sich dennoch wie zwei verschiedene Pflanzen entfalten. Sie teilen denselben Wind, dieselbe Kälte, denselben weiten Himmel, aber sie antworten unterschiedlich auf diese Welt. Und genau in dieser Differenz liegt eine Art Schönheit, die man nur erkennt, wenn man den beiden Magien ihren eigenen Raum lässt.

Die sámi­sche Magie beginnt immer in der Beziehung. Sie entsteht in dem Moment, in dem der Mensch anerkennt, dass die Welt lebt – dass der Fluss, der Berg, das Tier, der Wind eigene Wesenheiten besitzen, eigene Stimmen, eigene Wirklichkeiten. Magie ist hier kein Tun, sondern ein Hören. Kein Eingriff, sondern ein Gespräch. Ein Noaidi reist nicht, um etwas zu verändern, sondern um zuzuhören, um nachzufragen, um einen verlorenen Faden wieder an seinen Platz zu bringen. Die Kraft liegt im Lauschen, im Eintauchen, im Mitgehen. Die Welt antwortet, weil man mit ihr spricht. Nicht in Worten, sondern in einem alten, wortlosen Raum, der sich nur öffnet, wenn man bereit ist, selbst still zu werden.

Die runische Welt antwortet anders. Sie sucht nach Form. Nicht nach Begrenzung, sondern nach Klarheit. Während die sámi­sche Magie Strömungen folgt, arbeitet die runische Magie mit Linien, mit Namen, mit Verdichtungen. Eine Rune ist nicht ein Wesen, sondern eine Kraft in Form. Sie spricht nicht in Landschaften, sondern in Bewegungen, die sich zu Zeichen verdichtet haben. Wer mit Runen arbeitet, steht nicht wie ein Noaidi in einem Geflecht von atmenden Beziehungen, sondern vor einem Netz von Kräften, die sich in klaren Mustern zeigen. Es ist eine Welt, die ihre Wildheit nicht durch Nähe offenbart, sondern durch Struktur. Eine Wildheit, die man nicht ertastet, sondern die man erkennt.

Und doch berühren sich beide Welten mehr, als es auf den ersten Blick scheint. Beide gehen davon aus, dass die Wirklichkeit aus mehreren Schichten besteht. Beide wissen, dass der Mensch mehr ist als das, was sein Auge sieht. Beide begreifen, dass Magie nicht aus Willen entsteht, sondern aus Haltung. Der Noaidi braucht Demut, um die Strömungen der Welt betreten zu können. Der Runenmeister braucht Demut, um die Kräfte der Runen nicht zu missverstehen. Beide wissen, dass man nicht herrscht, sondern dient. Nicht befiehlt, sondern zuhört. Nicht greift, sondern empfängt. In beiden Welten ist Arroganz tödlich.

Doch der grundlegende Unterschied liegt darin, wie diese Haltung in Handlung übergeht. Der Noaidi bewegt sich durch Übergänge. Er verschiebt seinen Bewusstseinszustand, bis die Welt sich öffnet. Der Runenmeister verschiebt nicht die Welt, sondern die eigene Wahrnehmung der Kräfte, bis die Linie sichtbar wird, die zum Wirken taugt. Der Noaidi arbeitet mit den Wesen; der Runenmeister arbeitet mit den Kräften. Der eine folgt dem Fluss; der andere zieht eine Furche. Der eine taucht ein; der andere ritzt ein. Die Paarung ist nicht Gegensatz, sondern Spiegel. Zwei Wege, dieselbe Tiefe zu berühren.

Es gibt einen weiteren Unterschied, der oft übersehen wird: die Nähe zur Landschaft. Während die sámi­sche Magie untrennbar mit Orten verbunden ist – mit heiligen Plätzen, mit Bergen, mit Flüssen, mit Tieren, die dort leben –, ist die runische Welt stärker mythologisch strukturiert. Ihre Kräfte wohnen in Räumen, die nicht immer geografisch, sondern oft kosmisch gedacht sind: in Asgard, in Hel, in Jötunheim. Die Sámi hören den Berg direkt; der Runenmeister hört ihn als Teil eines größeren Musters, das sich durch Mythen zieht. Es ist nicht weniger wahr, aber anders gewebt.

Und dennoch, wenn man beide Welten lange genug betrachtet, beginnt man eine Art alte Verwandtschaft zu spüren. Vielleicht, weil beide Magien aus einem Norden stammen, der Menschen dazu zwingt, mehr zu fühlen als zu denken. Vielleicht, weil beide verstanden haben, dass die Welt erst lebendig wird, wenn man ihr etwas zurückgibt. Vielleicht, weil beide Wege von Menschen geschaffen wurden, die die Kälte kannten, die Dunkelheit, die langen Winter, das unendliche Weiß. Vielleicht, weil ein Magier im Norden immer auch ein Wanderer ist – egal, ob er mit der Trommel reist oder mit dem Runenstab.

Und genau aus dieser Verwandtschaft entsteht die Möglichkeit eines echten Verständnisses. Nicht, um beide Welten gleichzumachen – das würde ihnen ihre Kraft nehmen –, sondern um zu sehen, dass sie zwei Stimmen desselben Windes sind. Zwei Arten, derselben Wirklichkeit zu begegnen. Zwei Magien, die sich nie vermischt haben und doch immer nebeneinander existierten, wie zwei Sterne, die aus derselben Dunkelheit heraus leuchten. Und wenn man das einmal verstanden hat, führt der Weg fast von selbst weiter: zu der Frage, was passiert, wenn man beide Welten nicht gegeneinander, sondern nebeneinander betrachtet – und welche neuen Einsichten daraus entstehen können.

 

7. Zwei Wege im Spiegel – Die innere Haltung als Schlüssel

Wenn ich die beiden magischen Welten des Nordens im Spiegel betrachte, dann merke ich, wie stark sie sich gegenseitig erhellen. Nicht, weil sie gleich wären, sondern weil sie in ihrer Unterschiedlichkeit etwas über den Kern der magischen Haltung selbst verraten. Die eine zwingt uns, die Welt als atmendes Gegenüber wahrzunehmen; die andere zwingt uns, die Kräfte in ihrer Struktur zu erkennen. Und erst im Zusammenspiel dieser beiden Perspektiven entsteht ein Bild, das größer ist als jede einzelne Tradition für sich. Man könnte sagen: Die sámi­sche Magie zeigt uns, wie man lauscht. Die runische Magie zeigt uns, wie man sieht. Und beides zusammen führt uns zu einer Art Wahrnehmung, die tiefer reicht als die einzelnen Systeme.

Die Haltung der Sámi ruht auf Nähe. Sie verlangt, dass man die Welt berührt, bevor man sie deutet. Dass man einen Ort spürt, bevor man ihn benennt. Dass man ein Wesen erkennt, nicht weil man es kategorisiert, sondern weil man sich von ihm anschauen lässt. In dieser Haltung liegt eine enorme Demut, aber auch eine enorme Kraft. Denn sie setzt voraus, dass der Mensch nicht im Zentrum steht. Er ist Teil eines Gewebes, nicht Herr darüber. Magie entsteht hier aus Beziehung: aus einem Dialog, der nicht aus Worten besteht, sondern aus Präsenz, aus Aufmerksamkeit, aus jener Art von Stille, die nicht Leere ist, sondern Offenheit.

Die runische Haltung hingegen beginnt nicht in der Nähe, sondern in der Klarheit. Sie verlangt, dass man den Strom der Kräfte erkennt, der unter der Oberfläche fließt, und dass man die Muster sieht, die sich in der Welt wiederholen. Es geht nicht darum, die Welt „romantisch“ zu spüren, sondern darum, die Linien zu begreifen, die sie formen. Runen sind keine Zufallsprodukte; sie sind Verdichtungen. Wer mit ihnen arbeitet, braucht Genauigkeit, Mut zur Form und die Bereitschaft, die eigene Wahrnehmung immer wieder zu schärfen. Auch hier liegt Demut, nur anders ausgerichtet: nicht gegenüber dem Gegenüber, sondern gegenüber der Struktur, die man betritt.

Wenn man diese beiden Haltungen nebeneinanderstellt, erkennt man etwas, das man kaum übersehen kann: Beide Wege verlangen die Bereitschaft, sich selbst zurückzunehmen. Der Noaidi, der reist, tut es nicht, um seine Macht auszubreiten, sondern um Gleichgewicht zurückzubringen. Der Runenmeister, der ritzt, tut es nicht, um seinen Willen durchzusetzen, sondern um Kräfte sichtbar zu machen, die ohnehin wirken. Beide Wege lehren, dass Magie nicht vom Ich ausgeht, sondern vom Zwischen. Vom Raum zwischen Mensch und Welt. Vom Raum zwischen Klang und Form. Vom Raum zwischen Wahrnehmung und Handlung.

Und doch, in der Tiefe spürt man eine weitere Berührung: Beide Systeme sind Wege der Verantwortung. Der Noaidi trägt die Verantwortung, die Beziehungen der Welt nicht zu verletzen. Der Runenmeister trägt die Verantwortung, die Kräfte nicht falsch zu binden. Beide wissen, dass ein falscher Schritt Folgen hat. Dass man nicht experimentiert, weil es spannend ist, sondern weil etwas getan werden muss. Magie ist hier nicht Spielerei, sondern eine Art Dienst, eine Aufgabe, die größer ist als das eigene Leben. Und vielleicht ist genau das der Grund, warum keiner dieser Wege jemals oberflächlich geblieben ist.

Wenn ich beide Systeme im Spiegel betrachte, erkenne ich außerdem etwas, das mich immer wieder berührt: Beide Traditionen misstrauen der Illusion, dass der Mensch die Welt besitzen könnte. Der Noaidi misstraut ihr, weil er weiß, dass die Welt lebt. Der Runenmeister misstraut ihr, weil er weiß, dass die Kräfte eigene Gesetze haben. In beiden Welten gibt es eine Grenze, die man nicht überschreitet. Und diese Grenze ist nicht Verbot, sondern Schutz. Schutz der Welt – und Schutz des Menschen vor sich selbst.

Doch der vielleicht wichtigste Punkt liegt in etwas anderem: Beide Magien wurzeln in einem Norden, der den Menschen zwingt, sich ehrlich zu machen. Wer in einer Landschaft lebt, die so groß, so roh, so unbarmherzig sein kann, lernt schnell, dass Wirklichkeit nicht verhandelbar ist. Man lernt, dass Wahrnehmung überlebenswichtig ist. Genau deshalb haben beide Traditionen so tiefe Methoden hervorgebracht, die Wahrnehmung zu schärfen – die einen durch Beziehung, die anderen durch Struktur. Der Norden hat diese Wege nicht hervorgebracht, weil er mystisch ist, sondern weil er es verlangt.

Wenn man lange genug im Spiegel dieser beiden Systeme verweilt, entsteht schließlich ein dritter Raum. Ein Raum, in dem das Lauschen der Sámi und die Klarheit der Runen sich nicht widersprechen, sondern ergänzen. Ein Raum, in dem man beginnt zu spüren, dass beide Magien unterschiedliche Antworten auf dieselbe Frage sind: Wie begegnet man einer Welt, die größer ist als man selbst? Dieser Raum ist kein neuer Weg, keine Synthese, kein Mischwesen. Er ist einfach das, was entsteht, wenn man beide Stimmen gleichzeitig hört. Und genau dort führt uns der Weg im nächsten Kapitel weiter: zu der Frage, was aus dieser doppelten Betrachtung für ein heutiges Verständnis des Nordens erwachsen kann.

 

8. Ein neuer Blick auf den Norden – Was die beiden Wege uns heute wirklich geben können

Wenn ich auf die beiden Magien des Nordens schaue, dann tue ich das nicht aus der Rolle eines Praktizierenden oder Wissenden heraus, sondern aus dem Bedürfnis, etwas über meine eigenen Wurzeln zu verstehen. Dabei merke ich, wie leicht man in Erzählhaltungen rutschen kann, die größer klingen als das eigene Anliegen. Doch es geht mir nicht darum, Wege zu gehen, die anderen gehörten, und auch nicht darum, Rollen zu übernehmen, die niemand leichtfertig an sich nehmen sollte. Es geht darum, die unterschiedlichen Weltsichten des Nordens kennenzulernen, weil sie etwas darüber erzählen, wie Menschen früher lebten, dachten und spürten. Und genau darin liegt der Wert, den ich für mich selbst entdecke.

Die sámi­sche Welt macht deutlich, wie eng das Leben früher mit der Natur verbunden war. Nicht im romantischen Sinn, sondern im praktischen. Wer im hohen Norden lebte, musste die Landschaft lesen können – den Himmel genauso wie das Verhalten der Tiere, die Veränderungen im Wind oder im Schnee. Beziehungen zu Orten und Wesen waren keine spirituelle Sonderrolle, sondern eine alltägliche Form von Achtsamkeit. Wenn ich diese Haltung betrachte, spüre ich darin eine Einfachheit: Man achtet auf das, was einen umgibt. Man nimmt wahr, bevor man urteilt. Das ist nichts Überhöhtes. Es ist schlicht eine Art, mit der Welt umzugehen, die heute oft verloren gegangen ist.

Die runische Welt wirkt auf den ersten Blick anders. Sie arbeitet stärker mit Form, mit Ordnung, mit benannten Kräften. Doch auch hier geht es nicht um Macht oder besondere Fähigkeiten, sondern um ein Ringen darum, die Bewegungen der Welt zu verstehen. Die Runen sind ein Versuch, das Unsichtbare greifbar zu machen, nicht indem man es beherrscht, sondern indem man ihm eine Form gibt. Auch hier spüre ich nichts Heroisches, sondern etwas sehr Menschliches: den Wunsch, zu begreifen, wie die Dinge zusammenhängen. Ein Bedürfnis, das wir alle kennen, egal, aus welchem Jahrhundert wir stammen.

Wenn ich diese beiden Welten nebeneinander betrachte, merke ich, dass sie uns heute nicht dazu auffordern, alte Rollen wiederzubeleben oder uns in Praktiken hineinzuversetzen, die nicht zu unserer Zeit gehören. Sie geben vielmehr Hinweise darauf, welche Grundhaltungen Menschen im Norden geprägt haben – und was uns davon noch immer begleiten könnte. Die sámi­sche Welt erinnert daran, wie wichtig es ist, die eigene Umgebung ernst zu nehmen. Die runische Welt erinnert daran, dass Klarheit und Benennung helfen können, etwas zu verstehen, das auf den ersten Blick schwer zu fassen ist.

Beide Sichtweisen haben einen gemeinsamen Kern: Sie nähern sich der Welt ohne Anspruch auf Besitz. Der eine Weg tut es über die Beziehung, der andere über die Struktur. Beide gehen davon aus, dass der Mensch eingebunden ist in etwas Größeres, egal, wie man dieses Größere nun nennt. Genau darin liegt für mich eine Art Boden, der sich gut anfühlt – kein Pathos, kein Übermut, kein Anspruch, sondern eine Haltung, die einfach sagt: Schau hin. Hör zu. Versuch zu verstehen, wo du herkommst.

Vielleicht ist das die eigentliche Einladung, die am Ende bleibt. Nicht, ein System zu übernehmen oder eine Magie zu üben, sondern den eigenen Blick zu schärfen. Die Welt muss dafür nicht mystisch werden, und ich selbst muss dafür keine Rolle annehmen. Es genügt, auf das zu achten, was mich anspricht. Auf das, was Fragen stellt. Auf das, was sich nach Herkunft anfühlt, ohne dass es laut werden muss. Und genau dort setzt das nächste Kapitel an: ein ruhiger Abschluss darüber, was diese beiden Welten gemeinsam sichtbar machen, wenn man ihnen ohne Anspruch und ohne Überhöhung begegnet.

 

9. Schluss – Ein stiller Faden zurück

Wenn ich all das betrachte, was sich in diesen Kapiteln entfaltet hat, dann bleibt am Ende kein großes Bild, das alles erklärt, sondern eher ein leiser Faden, der sich durch die verschiedenen Welten des Nordens zieht. Es ist kein Faden, der laut fordert, sondern einer, der sich bemerkbar macht, wenn man für einen Moment anhält. Genau das entspricht auch dem Anliegen, mit dem ich dieses Schreiben überhaupt begonnen habe: nicht um Antworten zu finden, die endgültig sein könnten, sondern um einen Zugang zu einer Vergangenheit zu bekommen, die in mir etwas auslöst, ohne dass ich genau sagen könnte, warum.

Die sámi­sche Magie und die runische Welt unterscheiden sich klar voneinander, und doch berühren sie sich in einer Haltung, die mich nicht mehr loslässt. Beide Traditionen gehen davon aus, dass der Mensch nicht losgelöst von seiner Umgebung existiert. Beide sehen die Welt nicht als etwas, das man beherrschen kann, sondern als etwas, das man wahrnimmt, respektiert und dessen Bewegungen man erst einmal verstehen sollte, bevor man sich darin behauptet. Vielleicht ist das der eigentliche Kern dieser ganzen Reise: ein Erinnern daran, dass Wahrnehmung und Haltung mehr bedeuten als Wissen.

Ich habe beim Schreiben gemerkt, wie schnell man sich in Formulierungen verfangen kann, die größer sind als das eigene Anliegen. Doch wenn ich all das wieder auf einen Punkt reduziere, ist es eigentlich ganz schlicht. Mein Blick auf den Norden hat sich verändert, nicht weil ich etwas Übernatürliches gesucht hätte, sondern weil ich begonnen habe, die alten Wege als Spiegel zu sehen. Sie zeigen nicht, wer ich sein müsste, sondern sie werfen Fragen auf, die ich bisher nicht gestellt habe. Fragen nach Herkunft, nach innerer Ausrichtung, nach der Art, wie man die Welt ansieht.

Das Wissen der Sámi, so fragmentarisch es heute sein mag, verweist auf eine gelebte Nähe zur Welt, die unmittelbar wirkt. Die Runen verweisen auf ein Denken, das versucht, Kräfte und Muster zu erkennen. Diese beiden Grundhaltungen widersprechen sich nicht. Sie ergänzen sich. Und in diesem Zusammenspiel spüre ich etwas, das ruhig ist, aber trotzdem trägt: den Gedanken, dass Herkunft nicht bedeutet, alte Rollen wiederzubeleben, sondern zu begreifen, aus welchen Haltungen man entstanden ist.

Vielleicht liegt genau darin der Wert, den beide Traditionen heute haben: Sie öffnen Räume, in denen man sich selbst in Beziehung zur Welt wiederfinden kann, ohne sich etwas anzumaßen. Räume, in denen man nicht nach Macht sucht, sondern nach Verstehen. In denen man nicht versucht, alte Wege zu gehen, sondern zu erkennen, was von ihnen übriggeblieben ist – nicht als Vorschrift, sondern als Hintergrundrauschen, das einen daran erinnert, dass man Teil einer langen Geschichte ist, auch wenn man sie nicht vollständig kennt.

Und so endet dieses Essay nicht mit einer Erkenntnis, die alles abschließt, sondern mit einer, die offenlässt. Die beiden Magien des Nordens geben keine fertigen Antworten, aber sie öffnen Türen. Welche davon ich selbst betrete, weiß ich erst, wenn ich dort stehe. Doch allein, dass es diese Türen gibt, genügt mir im Moment. Es ist ein stiller Faden zurück, kein lauter Ruf nach vorne. Und manchmal ist genau das genug.


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